Liebe Gemeinde

Liebe Gemeinde,
manchmal habe ich Angst. Es ist, als würde sie direkt nach meinem Herz greifen. Von innen packt sie zu und hinterlässt in mir ein Gefühl von Hilflosigkeit und Leere. Meine Augen irren die Wände entlang und quer über das Bücherregal, ohne etwas zu sehen. Die Hände suchen Halt an meinem Smartphone, ohne etwas zu packen, das hilft. Meine Angst und mein Schrecken darüber, meine Unrast, mit der ich versuche, sie zu übertünchen – nichts davon ist neu. Wir hatten das alles schon längst. Alles kalter Kaffee, an dem ich mich zum hundertsten Mal verbrenne. Ich könnte einen Neubeginn gebrauchen. Nicht dieselbe blasse Novembersonne, wie seit Tagen, sondern einen echten Neubeginn.
Ich könnte eine Hand auf meiner Schulter gebrauchen. Ich könnte einen vertrauten Geruch gebrauchen. Ich könnte ein Lied gebrauchen, das ich kenne. Ich könnte das Eingeständnis gebrauchen, dass ich es nicht allein schaffe. Ich könnte Tränen gebrauchen, die mir die Angst aus dem Gesicht spülen.
Zum Glück ist bald Advent.
Aber Halt! Advent ist nicht die Zeit, um mich abzulenken. Es ist nicht die Zeit, um meine Angst, jeden Schmerz oder die Einsamkeit zu ignorieren, nach dem Motto: „Bald ist Weihnachten und dann sollen alle fröhlich sein.“ Wenn es so wäre, würde Gott mich übergehen. Ich könnte dann zwar (etwas kindisch) bitten: „Komm schnell und löse meine Schwierigkeiten in Luft auf!“ aber das Leben in mir hätte ich dann übergangen.
Gott aber übergeht das Leben in mir nicht. Er achtet, was er bei mir findet. Und wenn er Angst findet, dann nimmt er das ernst. So hat er es schon bei Maria gemacht. Und bei Joseph und bei den Hirten natürlich auch. Immer hat er die Angst gesehen und seine Boten sagen lassen: „Fürchte dich nicht.“ Das heißt: Lebe dein Leben nicht angstverfälscht! Lass nicht zu, dass dein Herz eng bleibt! Gib deine Seele frei, mach hoch die Tür und die Tore weit!
Gott spricht. Er spricht zu mir. Er spricht, während ich mich ängstige, nicht erst danach. Und im Advent spricht er auf hundert Weisen: Die Lichterketten und die Kerzenflammen, die mich an meine Kindheit erinnern, in der ich so gewiss war, dass alles gut wird. Ich gebe meinen Augen Zeit, sich an das Funkeln zu gewöhnen. Und auf einmal ist mir, als schaute er über meine Schulter und flüstert mir ins Ohr: Die Gewissheit deiner Kindheit wird neu in dir wachsen.
Zu einer anderen Gelegenheit steigt mir der Duft von frischen Plätz-chen in die Nase. Zugegeben – ich esse die Dinger gar nicht so gerne. Aber der Geruch ist so vertraut und steht für das Geschenk des Schenkens. Das Lächeln, das ich aufbringe und die Reaktion des Kin-des, das sich den Keks in den Mund stopft, während seine Mutter es streng anstupst: „Was sagt man da?“ - „Dannffe.“. Und schon weicht die Angst der Erfahrung, dass ich durch Geschenke in Verbindung mit anderen komme. Allein fürchtet es sich besser – verbunden schwindet die Furcht.
Und dann sind da die Lieder. Auch hier spricht Gott. Er singt vielmehr, oft spielt er auch einfach Klavier. „Mein Herze soll dir grünen, in stetem Lob und Preis. Und deinen Namen rühmen. So gut es kann und weiß.“ Diese Zeile hat mir noch jedes Jahr Tränen geschenkt: So gut es kann und weiß.
Nicht mehr verlangt Gott von mir als meinen Status Quo. Mein Sein im Hier und Jetzt. Mit Angst oder auch mal ohne. Aber nicht anders, nicht verstellt, nicht voreilig repariert oder künstlich positiv gestellt. Sondern so, wie es ist. So gut ich kann und weiß.
Manchmal habe ich Angst. Das passiert auch im Advent. Und Gott passiert dann auch. Das kann ich gut gebrauchen. Gut, dass bald Advent ist.
Ihr Pastor Oliver Pütz